In Coñaripe am Lago Calafquen treffen wir Anke und Wolfgang wieder und finden neben dem riesigen MAN-Truck der beiden Langzeitreisenden noch einen schönen Stellplatz für die nächsten Tage. Ich habe mir schon kurz nach Silvester eine hartnäckige Erkältung zugezogen und wir wollen nun so lange nicht weiter, bis ich wieder fit bin. Der Platz direkt am See ist sehr schön, und er liegt auch weit weg vom Touristentrubel, der in der Entfernung zu erkennen ist. Nach wie vor sind Ferien in Chile und wir sind froh für jeden einigermaßen einsamen Ort. Nach drei Tagen machen wir aber dann doch den Abflug, auch wenn die Erkältung noch nicht abgeklungen ist. Eine Hündin hat sich mit Mia schon kurz nach unserer Ankunft angefreundet, was ja an sich optimal ist. Nur ist die kleine Dame leider läufig und ihre „anziehende Wirkung“ auf die Jungs und die dazugehörenden Kämpfe, die den ganzen Tag über stattfinden, gehen uns dann echt auf den Geist und wir verabschieden uns von Anke und Wolfgang, die ihrerseits die Flucht ergreifen.
Zu einem dieser Grundstücke sind wir heute eingeladen und die beiden Gastgeber Caren und Roger schicken uns per Email eine detaillierte Wegbeschreibung inklusive einiger Bilder der neuen und der restaurierten Brücken. Ihre eigene, neu gebaute Brücke ist ein stabiles Teil aus Metall und würde für uns kein Problem darstellen, wäre da nicht vorher eine Brücke, die zur Gemeinde von Pucon gehört und daher von städtischer Seite aus nur mit zwei dicken Holzstämmen „renoviert“ wurde. Erst stoppen wir direkt vor der Brücke, da ein Schild „2 Tonnen“ uns doch etwas unsicher werden läßt. Ach was solls, Roger schrieb, es ist wohl kein Problem, also nix wie rüber. Kaum fahre ich an, rennt ein Chilene mit wild fuchtelnden Armen auf uns zu und macht uns klar, daß die Brücke unter unserem Gewicht wohl zusammenbrechen wird und zeigt uns an der Brücke die offensichtliche Problemstelle. Wir sind froh für diesen Tipp und probieren eine Flußdurchquerung 100 Meter weiter, die als Alternativlösung von Roger vorgeschlagen wurde. Leider bleiben wir auch hier an einigen großen Steinen hängen und sind letztendlich froh, rückwärts wieder heil aus dem Fluß herauszukommen. So bleibt nur noch, uns per Email bei den beiden US-Amerikanern für die Einladung zu bedanken und wir gönnen uns stattdessen zur Entschädigung ein ganz hervorragendes Steak im Restaurant „Las Tranqueras“ in Pucon. Am nächsten Tag fahren wir eine nicht vom Ausbruch zerstörte Straße zum Vulkan Villarica hinauf. Der aktive Vulkan bläst und spukt nach wie vor ein wenig Asche und Lava aus seinem Kamin und wir möchten uns das Spektakel mal von der Nähe betrachten. Wir parken unterhalb des Vulkans und haben ein freies Sichtfeld auf den wolkenfreien Kegel des Villarica. Er qualmt gemächlich vor sich hin, nur glühende Lava in die Luft schleudern, das tut er aktuell gerade nicht. Nach dem Sonnenuntergang ist am Kamin des Vulkans dann doch noch ein wenig Aktivität erkennbar und gibt Claudia die Chance zu ein paar Fotoaufnahmen. Keine 60 km nördlich von Pucon steuern wir auf den Campingplatz „Parque Camping Estero Cobulto“, der von den beiden Deutschen Elly und Werner geführt wird. Schon seit 12 Jahren arbeiten die beiden Badenser an ihrem kleinen Paradies und wir fühlen uns auch schnell sehr wohl in ihrem Reich. Zurzeit arbeiten drei deutsche „Workawayers“ hier am Camping. Über Workaway geben vor allem Besitzer von touristischen Anlagen Reisenden die Möglichkeit mit etwas Arbeit die Reisekasse zu schonen. Gemeinsam mit der gesamten „Campingfamilie“ wird des Öfteren gegrillt, gebadet und sogar im Hotpool relaxed. Da fällt es uns nicht schwer, unseren Aufenthalt entgegen der Planung zu verlängern und wir haben eine sehr schöne Zeit mit weiteren deutschen Reisenden, die es auf dem Weg durch Chile hierher verschlägt. Nahe des Vulkans Lonquimay finden wir einen Stellplatz direkt am Rio Manzanar. Nur 2 km von unserem Übernachtungsplatz gibt es die sehr schön angelegte Hotel- und Thermenanlage Malalcahuello und wir entscheiden uns hier mal einen Tag in deren Thermalbad zu verbringen. Wir dürften sogar direkt an der Therme übernachten, entscheiden uns aber doch wieder für den ruhigen Platz am Rio Manzanar. Der etwas abgelegene Ort Capitan Pastene wurde von italienischen Auswanderern gegründet. An den Häusern des Dorfes erinnert allerdings absolut nichts an das (für uns!) schönste Land Europas, sieht man mal von der Schinkenkultur ab, die hier noch gepflegt wird. Massenweise hängen luftgetrocknete Schinken von der Decke des Schinkenmuseums und auch die vielen Restaurants werben mit italienischer Esskultur. Wir testen schließlich eines der zahlreichen Restaurants und sind schon mal enttäuscht, da der Pizzaofen gerade anderweitig verwendet wird und eine Pizzabestellung somit über eine Stunde dauern würde. Das alternative Pastagericht überzeugt uns dann auch nicht so richtig, der Kauf von ein wenig Parmaschinken scheitert am Preis (6 EUR für 100g) und so verlassen wir am nächsten Morgen den an sich ganz netten Ort mit der Erkenntnis, nur äußerst wenig der italienischen Wurzeln hier erkannt zu haben. Auf unserem Weg weiter in das nördliche Chile halten wir noch bei den Wasserfällen „SaltoLlas Lajas“. Die größten Wasserfälle Chiles sind leider aufgrund der aktuellen Wasserstände der Flüsse ein wenig spektakulärer Anblick, was aber gerade jetzt in der Ferienzeit die Einheimischen nicht davon abhält, in Scharen hierher zu kommen und die Location zu bestaunen. Ein US-Amerikanischer Tourist in Pucon machte uns auf ein deutsches Dorf namens Villa Baviera aufmerksam. Wir erkannten aus seiner Erzählung, daß es sich um die berüchtigte Siedlung „Colonia Dignidad“ handelt, von der wohl Viele schon mal was gehört haben. Wir waren überrascht, daß man diesen Ort heute offiziell besuchen kann und haben dann im Internet etwas recherchiert, was es denn eigentlich mit der Colonia Dignidad so auf sich hat.
Sie wurde im Jahr 1961 von Laienprediger Paul Schäfer gegründet. Mit den rund 200 Mitgliedern seiner Anhängerschaft wurde in Chile eine Siedlung aufgebaut und eine der Aufgaben war die Unterstützung der Chilenen, die gerade von einem schweren Erdbeben stark gebeutelt wurden. Was die Mitglieder nicht wußten, war die pädophile Veranlagung des Paul Schäfer, gegen den in Deutschland schon mehrere Verfahren liefen. Durch seine Kooperation mit dem Regime unter Pinochet konnte er unter dessen Schutz seine abartigen Neigungen ausleben und ungestraft seine Mitglieder unterdrücken, foltern und misshandeln.
Natürlich überlegt man sich, ob man dort wirklich vorbei fahren muß. Viele der Regimegegner Pinochets sind auf dem Gelände der Colonia gefoltert worden und dann „verschwunden“. Deren Angehörige sind verständlicherweise absolut gegen einen Tourismus auf solch einem Gelände mit dieser Vergangenheit. Wir haben aber auch Berichte gelesen, in dem das Leid der Opfer des Paul Schäfer beschrieben wird und die teilweise aussichtlose Situation für diese Menschen, sich in der heutigen Gesellschaft außerhalb der Villa Baviera zurechtzufinden. Viele sind zurückgekehrt und probieren in ihrer einzig wirklichen Heimat zu überleben. Klar war da nun auch Neugier bei uns geweckt worden, aber auch Mitleid mit diesen Leuten, von denen der Bericht gehandelt hat. Leute, die zum großen Teil in unserem Alter sind.
Über eine 20 km lange Schotterpiste fahren wir zu diesem abgeschiedenen Ort. Der Empfang ist sehr freundlich und wir dürfen auch in der Kolonie übernachten. Zuerst erkunden wir einen Teil der Anlage auf diversen Wanderwegen in dem überall offen zugänglichen Gelände. Danach buchen wir für den nächsten Tag eine geführte Tour, um von Zeitzeugen noch mehr über diese Kolonie zu erfahren. Wir sind die einzigen Teilnehmer bei der heutigen Führung und so nimmt sich Erika, die in der Colonia Dignidad, groß geworden ist, sehr viel Zeit und erzählt uns aus der Vergangenheit.
Erika ist 1962 im Alter von 2 Jahren mit ihren Eltern in einer der ersten Gruppen von Aussiedlern hier angekommen und Teil dieser Geschichte. Sie erzählt, wie die Kinder von den Eltern getrennt wurden und mit welchen Argumenten Schäfer ihnen das begründet hat. Mädchen und Jungen wurden getrennt aufgezogen, was letztlich zur Folge hatte, daß wegen dieser strengen Isolation Erika ihre Eltern erst wieder sah, als sie bereits 40 Jahre alt war. Kurz darauf lernte sie ihren Bruder zum ersten Mal kennen.
Wir besichtigen den Keller des Hauptgebäudes, in dem auch die Telefonzentrale untergebracht ist, in der alle Telefone der Einwohner zusammengeschaltet waren, aber halt auch Schäfer und seinen Leuten die Möglichkeit gab, alle Gespräche abzuhören und Intrigen zu schmieden. Wir erhalten Einblick in weitere Überwachungsmethoden wie Kameras in künstlichen Bäumen, Bewegungsmelder in den umliegenden Wäldern und eine Hundestaffel mit über 100 Tieren. Die meisten Fluchtversuche scheiterten. Erika gibt aber auch eine grobe Schilderung des „normalen“ Alltags und über das Leben in der Colonia. Sie sagt uns auch ganz offen, daß die soeben gehörte Geschichte eben die von ihr erlebte ist, und daß beispielsweise Jürgen, ein anderer Führer und hier aufgewachsener Mann, die Vorkommnisse der letzten 50 Jahre aus seiner Sicht erzählt und somit durchaus ein anderes Bild der Colonia widerspiegeln könnte. Schäfer missbrauchte ausschließlich die Jungs, Mädchen waren nur wie Hühner. Aufkommender Unmut bei den Kindern wird mit Psychopharmaka sowie Elektroschocks auf die Genitalien bestraft. Leider hat auch die deutsche Botschaft mit Schäfer kooperiert und soll fluchtwillige Kinder dem Tyrannen ausgeliefert haben. Aufgrund der Vermittlung von Geschäften mit deutschen Waffen an das Pinochet-Regime hat sogar die CSU mit Schäfer sympathisiert. Franz Josef Strauß soll die Anlage gar mehrfach selbst besucht haben.
Alles, was Erika uns erzählt, ist unglaublich interessant und wir sind so von ihrer Geschichte gefesselt, daß wir uns erst bei Sonnenuntergang nach drei Stunden – die Führung ist normalerweise für eine Stunde angesetzt – von ihr verabschieden. Wir waren knapp zwei Tage hier und können nur unseren Eindruck schildern, den wir in diesem kurzen Zeitraum bekommen haben. Uns hat dieser Besuch sehr beeindruckt, aber auch viele Fragen offen gelassen. Die gepflegte Anlage, das leckere Restaurant, das Schwimmbecken, alles ist sehr einladend aufgebaut und die Touristen scheinen das zu würdigen. Die große Küche und Backstube der Villa Baviera produziert reichlich Nahrungsmittel deutscher Qualität. Mit dem Verdienst aus dem Tourismus müssen alle Einwohner hier ernährt werden, ob jung oder alt, auch wenn von den älteren Menschen einige durchaus ihre Schuld mit zu tragen haben.
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